60/55 °C für Trinkwasser warm – eine Regel auf der Kippe

Die Forderung, die 60/55 °C-Regel für Trinkwasser warm aufzugeben, wird hierzulande aktuell heiß diskutiert.

In der Schweiz gibt es auf Initiative des Schweizer Ingenieur- und Architektenvereins (SIA) ähnliche Bestrebungen. Der SVGW, das Pendant der Eidgenossen zum DVGW, ist massiv dagegen.

Systemanbieter Viega hat mit der Symposiumsreihe „Trinkwassergüte und Energieeffizienz – vernetzt durch digitale Prozesse“ vor wenigen Monaten einen richtig dicken Stein ins fachliche Diskurswasser geworfen, das seitdem Wellen schlägt: Im Kern geht es um den Ansatz, die Systemtemperaturen für Trinkwasser warm (PWH) unter bestimmten Voraussetzungen, beispielsweise um 5 K, zu reduzieren. Ziel ist es, den in gut gedämmten Neubauten überproportional hohen Anteil an Primärenergie zu senken, der für die Warmwasserbereitstellung aufgewandt werden muss. Die alt eingeführte 60/55-Regel hätte damit ausgedient. Also die Vorgabe zum Erhalt der Trinkwassergüte, dass am Speicheraustritt mindestens 60-gradiges Wasser anliegt, das beim Wiedereintritt in den Speicher / Trinkwassererwärmer entsprechend noch 55 °C oder sogar mehr hat.

Der Hintergrund für diese Regel leuchtet ein: Legionellen, diese gefährlichen kleinen Stäbchenbakterien, haben die fatale Eigenschaft, dass sie sich zwischen 25 und 55 °C explosionsartig vermehren. Liegt das Temperaturniveau etwas niedriger, bis etwa 40 °C, sind die Krankheitserreger zwar immer noch da (VBNC-Zustand = lebensfähig, aber nicht kultivierbar), doch es passiert nichts, gesundheitlich gesehen. Genauso wenig wie bei Wassertemperaturen unter 25 oder noch besser 20 °C.

Was im Haus im Übrigen auch immer problematischer einzuhalten ist, weil nach neuesten Untersuchungen gerade in warmen Sommern die Versorger massive Probleme haben, am Hauseintritt diese Kaltwassertemperatur einzuhalten. Aber das Problem ist noch nicht in der Breite im allgemeinen Bewusstsein angekommen, als dass es schon zum erweiterten Expertendisput führe; der kommt wohl erst noch…

Alte UBA-Position

Im Gegensatz zur Frage der 60/55-Regel. Dazu schrieb schon das Umweltbundesamt vor acht Jahren in einer Stellungnahme: „Die größte Bedeutung für die Trinkwasserhygiene in Gebäuden haben Legionellen. Sie unterscheiden sich von den meisten anderen pathogenen Bakterien dadurch, dass sie sich nicht im menschlichen Körper vermehren, sondern in Biofilmen, insbesondere im Temperaturbereich von 20 bis ca. 55 °C. Nach den Ergebnissen der Cap­netz-Studie verursachen Legionellen in Deutschland jährlich zwischen 15.000 und 30.000 Erkrankungen, davon verlaufen nach Schätzungen 1.500 bis 2.000 tödlich (die Angaben differenzieren nicht nach Expositionsrouten; möglicherweise ist das Trinkwasser in Gebäuden die Hauptquelle, dies ist jedoch nicht belegt). Somit sind sie mit Abstand der relevanteste Umweltkeim, vor dem es die Bevölkerung zu schützen gilt.

Im Trinkwasser-Temperaturbereich von 20 bis 55 °C können Legionellen sich auf gesundheitlich bedenkliche Konzentrationen vermehren, wobei lange Aufenthaltszeiten des Wassers von einigen Stunden bis Tagen in Installationsrohren und Wasserspeichern die Vermehrung der Bakterien begünstigen. Dies ist bei Überlegungen, die Betriebstemperatur von Warmwassersystemen zum Zwecke der Energieeinsparung abzusenken, zu berücksichtigen.“

So weit, so gut, so unstrittig. Das Thema mit den „langen Verweilzeiten“ aber hat sich mittlerweile ja schon erledigt. 72 Stunden gelten nach VDI 6023 als Maximum, kürzere Zeiträume sind besser, hier besteht also aktuell kein Handlungsbedarf. Stattdessen aber mehr denn je bei den Systemtemperaturen, weil sich die unmittelbar auf die dahinter stehenden Wärmeerzeuger auswirken. 60/55 °C nur mit der Wärmepumpe, die im Moment als zukunftsträchtigste Wärmequelle gilt, sind Illusion, solange gleichzeitig befriedigende Arbeitszahlen erreicht werden sollen. Elektrisch Nachheizen ist wiede­rum nur dann eine ökologische Option, wenn der Strom wirklich „grün“ ist. Zumindest derzeit kann man damit nicht auf den Ansatz setzen.

Also: bleibt der Weg über die Systemtemperaturen. Aus gutem Grund aber nur unter bestimmten, klar definierten Rahmenbedingungen, hat seinerzeit schon Viega als „thread opener“ erklärt. Schließlich bestimmen neben der Wassertemperatur genauso der Wasseraustausch, die Durchströmung und der Nährstoffgehalt die Trinkwasserhygiene. Man muss das Ganze unbedingt im Gesamtzusammenhang sehen.

Planer denken ganzheitlich

Dies wohlwissend unterstrich jedoch schon im Rahmen des Viega-Symposiums M. Eng. Michael Krendel aus Sicht eines TGA-Fachplaners (mit besonderer Expertise zur Umsetzung des Passivhauskonzeptes auf Nichtwohngebäude) die dringende Notwendigkeit, die Aufgabenstellungen „Steigerung der Energieeffizienz“ und „Erhalt der Trinkwassergüte“ künftig planerisch stärker miteinander zu verbinden. Krendel ist für das Architektur- und TGA-Planungsbüro Carsten Grobe Passivhaus (passivhaus.de) in Hannover tätig: „Mit unserer eigenen Immobilie als Testobjekt entwickeln wir Lösungen wie beispielsweise unser PVT-System, das als Wärmequelle für eine Wärmepumpe dient. Gegenüber einem konventionellen Gebäude ist der Anteil der Energie zur Warmwasserbereitung im Passivhaus höher als die zum Heizen oder Kühlen benötigte Energie. Hier kann vielleicht der Ansatz der Ultrafiltration dazu beitragen, Warmwassertemperaturen zu senken und so das Wärmepumpensystem noch effizienter machen.“

Das entscheidende Stichwort in diesem Statement lautet dabei „Ultrafiltration“, also der gleichzeitig überprüfte Entzug des Nährstoffangebotes für Legionellen. Anfang 2019 wurde dazu an der Technischen Universität Dresden sogar ein Forschungsprojekt („ULTRA-F – Ultrafiltration als Element der Energieeffizienz in der Trinkwasserhygiene“) gestartet. In dem wird unter Leitung von Dr.-Ing. Karin Rühling unter anderem die hygienische Stabilität einer Trinkwasseranlage bei Absenkung der Systemtemperaturen von Trinkwasser warm auf beispielsweise 48/45 °C untersucht. Die Liste der Verbundprojektpartner unterstreicht die Bedeutung, die das Forschungsvorhaben hat. Mit dabei sind nämlich das Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene (IMMH) an der TU Dresden; das Universität Bonn Universitätsklinikum Institut für Hygiene und Öffentliche Gesundheit (IHPH); die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, das Institut für Infektionsmedizin (INF), Medizinaluntersuchungsamt und Hygiene (HYG); das Rheinisch-Westfälisches Institut für Wasserforschung (IWW) und nicht zuletzt das DVGW Technologiezentrum Wasser Dresden (TZWDD).

Optimale Betriebsbedingungen nötig

Um die ganzheitliche Betrachtung mit dem Ziel der Temperaturabsenkung in der PWH-Installation geht es aktuell auch den Schweizern, den Fachleuten vom Ingenieur- und Architektenverein SIA. Die haben nämlich mit genau diesem Ziel die Normen SIA 385/1 und /2 in Arbeit – und stoßen auf klaren Widerstand des SVGW, des Schweizer Vereins des Gas- und Wasserfachs. Die 55-Grad-Marke haben die Ingenieure zur Disposition gestellt, mit dem Ziel „der Effizienzverbesserung bei Wärmepumpen und Solarkollektoren“, so Dipl.-Ing. Jürg Nipkow als Präsident der Normenkommission SIA 385 (s. Hinweis): „Die noch geltende SIA 385/1:2011 fordert 60 °C am Ausgang des Wassererwärmers, 55 °C in den warmgehaltenen Leitungen und 50 °C an den Entnahmestellen. Wenn Trinkwasser mehr als 24 Stunden zwischen 25 und 50 °C verweilt, muss es vor der Nutzung thermisch desinfiziert, d.h. während 1 Stunde auf 60 °C erwärmt werden (,Legionellenschaltung‘). Diese ,Ausnahmeklausel‘ wurde 2014 vom Bundesamt für Gesundheit als nicht kontrollierbar beanstandet, was die Revision der SIA 385/1 auslöste.

In der folgenden langwierigen Diskussion der Normenkommission SIA 385 mit den verschiedenen Stakeholdern wurde schließ­lich, unter Berücksichtigung neuer Forschungsergebnisse, festgehalten, dass sich Legionellen über 50 °C nicht vermehren können. Darauf basierend wurde ein komplexes Regelwerk erarbeitet, welches unter gewissen Bedingungen (u.a. optimal konzipierte neue Anlage) den Betrieb einer warmgehaltenen Verteilung bei >52 °C erlaubt. Die Anlagen-Auslegung muss aber nach wie vor 55 °C erreichbar machen. Die Speicher-Austrittstemperatur ohne warmgehaltene Verteilung soll mindestens 55 °C betragen, mit warmgehaltener Verteilung muss sie so ausgelegt werden, dass die vorgegebene Temperatur in der Verteilung eingehalten wird (was unter Umständen >60 °C Speicheraustritt ergibt). Vertreter der Wärmepumpen- und Solarbranche wie auch das Bundesamt für Energie engagierten sich für möglichst tiefe Temperaturen. Die so überarbeitete Norm ging im Juni 2019 in eine erneute Vernehmlassung (nach ergebnisloser Vernehmlassung und Einspracheverfahren 2014). Zur neuen Vernehmlassung sind nun wieder sehr viele Eingaben gemacht worden, es gibt wiederum entgegengesetzte Meinungen und Vorschläge, die wir in der Kommission diskutieren müssen; danach folgt das vorgeschriebene Einspracheverfahren. Deshalb wird sich die Publikation weiter verzögern und bestenfalls im Spätfrühjahr 2020 erfolgen. Daher ist offiziell nach wie vor die SIA 385/1:2011 gültig, auch wenn wir seit längerem in Vorträgen präsentieren, wie die Änderungen sein könnten.“

Warum 3 K weniger Systemtemperatur selbst unter optimalen Betriebsbedingungen gar nicht gehen, verargumentieren die Verbandswasserkundler aus der Schweiz zunächst mit Hinweis auf ihre generelle Expertise: „Der Schweizerische Verein des Gas- und Wasserfachs SVGW verfolgt als Fachverband der Trinkwasserversorgungen das Ziel, die Konsumenten mit hygienisch einwandfreiem Trink- und Warmwasser, in ausreichender Menge und unter technisch und wirtschaftlich optimalen Bedingungen zu versorgen…

Die SVGW-Richtlinie W3 «Richtlinien für Hausinstallationen» bildet die Grundlage für eine einwandfreie Planung und Ausführung von Gebäude-Trinkwasserinstallationen kalt und warm und gilt für den Bereich Trinkwasser als wichtigstes Lehrmittel…“. Dann bezieht sich der SVGW maßgeblich auf die Empfehlungen des schweizerischen Bundesamtes für Gesundheit (BAG) und des Bundesamtes für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) zu „Legionellen und Legionellose“: „In den BAG/BLV-Empfehlungen … wird der Temperaturbereich von 45 bis 55 °C als lebensfähiger, aber nicht als vermehrungsfähiger Bereich für Legionellen angegeben. … An dieser Stelle (Anm. d. Red.: unter optimalen Betriebsbedingungen bei 52 °C einregulieren) ist zu berücksichtigen, dass auf dem Markt erhältliche Thermometer und Temperaturfühler Messungenauigkeiten von bis zu 2 K aufweisen. Wenn die warmgehaltenen Leitungen bei 52 °C einreguliert werden, könnte die reale Temperatur auch bei 50 °C liegen. D.h., die Anlage wird von Beginn an in einem Bereich betrieben, wo die Legionellen immer noch lebensfähig und virulent sind. Diese Vorgehensweise widerspricht einem vorbeugenden Schutz nach dem gesetzlichen Vorsorgeprinzip.“

Auffällige Beprobungsergebnisse

Welche Risiken dann drohen, hätten Messungen im eigenen Land aus den vergangenen Monaten gezeigt, nämlich „dass in Warm- aber auch Kaltwasserinstallationen vielerorts der gesetzliche Höchstwert von 1.000 KBE/l Legionella spp. überschritten wird. Dabei handelt es sich meistens um Wasserversorgungsanlagen, die mit Speichertemperaturen unter 60 °C und warmgehaltenen Leitungen unter 55 °C betrieben werden. Hingegen zeigen Wasserversorgungsanlagen, die mit einer Speicheraustrittstemperatur von 60 °C und in allen warmgehaltenen Leitungen von 55 °C betrieben werden, in der Regel keine Legionellen-Höchstwertüberschreitungen.“

Insofern stellt der SVGW den Antrag, „dass in der SIA-Norm 385/1 eine Warmwassertemperatur am Austritt des Speichers oder des Wärmeübertragers von 60 °C und in allen warmgehaltenen Leitungen eine ständige Mindesttemperatur von 55 °C gefordert wird.“Damit ist die Position auch klar. Die Diskussion dürfte aber, hier wie dort, weitergehen. Und spätestens mit Abschluss des Forschungsprojektes von Dr.-Ing. Rühling neues fachliches Futter bekommen, wie der Zielkonflikt aus Erhalt der Trinkwasserhygiene und Reduzierung des Primärenergieeinsatzes in PWH führenden Trinkwasseranlagen praxisgerecht aufgelöst werden kann. Klar dürfte dabei aber schon jetzt sein, dass die „optimalen Betriebsbedingungen“ von Trinkwasseranlagen eine entscheidende Rolle spielen. Sie werden wohl nur über den Einsatz vernetzter Installationskomponenten auf dem aktuellen Stand der Technik zu erreichen sein. Dies betrifft insbesondere die Regelgenauigkeit, beispielsweise von elektronisch gesteuerten Zirkulationsregulierventilen, aber auch den Einsatz entsprechend präzise arbeitender Fühler und Sensoren.

Hinweis

Danach sollen Warmwasseranlagen zwar generell so geplant und ausgeführt werden, dass in allen PWH-Leitungen mindestens 55 °C erreicht werden. Auf 52 °C darf aber auch einreguliert werden, wenn mit Planung und Ausführung optimale (Anm. d. Red.: hygienische) Betriebsbedingungen geschaffen wurden. Es ist also durchaus berücksichtigt, dass die 3 K Temperaturdifferenz „kritische Auswirkungen wie eine Verlängerung der Ausstoßzeiten oder zusätzlich notwendige Vorkehrungen zur Legionellenprophylaxe haben kann“, wenn nicht – wie vor – die übrigen Betriebsbedingungen stimmen. Der Ansatz entspricht damit im Grundsatz dem deutschen Vorstoß.

Mittwoch, 16.10.2019