Komfort für alle

Mit „Universal Design“ generationsübergreifend gestalten

Der demografische Wandel stellt mit der zunehmenden Alterung der Bevölkerung neue Anforderungen an die Wohnumfeld- und Wohnraumgestaltung – von der Infrastruktur- und Gebäude­planung über das Design von Produkten bis hin zu Dienstleistungsangeboten. Dies bringt auch Veränderungen der individuellen Ansprüche an das Bad, einem zentralen Element einer jeden Wohnung, mit sich.

Dabei rückt der Begriff „Universal Design“ immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses von Planern und Sanitärfachhand­werkern. Das Sanitär­Journal sprach dazu mit Dr.-Ing. Ronald Herkt, Vertriebsleiter Projektgeschäft beim Sanitärkeramikhersteller Keramag.

Herr Dr. Herkt, Ihr Unternehmen verfügt seit gut 20 Jahren über barrierefreie Produkte im Programm und hat mit der Beteiligung an der Initiative „Vitales Bad“ bereits Mitte der 90er Jahre für den Anschub dieses Themas in der Sanitärbranche gesorgt. Was wird bei Keramag unter „Universal Design“ verstanden?

Dem Konzept des „Universal Design“ liegt ein am Menschen orientierter Ansatz zugrunde, der das Ziel verfolgt, Produkte, Umgebungen, Systeme und Dienstleistungen so zu gestalten, dass diese für möglichst viele zugänglich und nutzbar sind sowie eine Stigmatisierung ausschließen. Unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten, ihrem Alter, Geschlecht oder kulturellen Hintergrund soll dabei möglichst allen Menschen eine gleichberechtigte und vollständige gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht werden. Für den in den 1980er Jahren in den USA entstandenen Begriff hat sich speziell in Europa der Ansatz „Design für Alle“ entwickelt. Dieser berücksichtigt insbesondere den Entstehungsprozess – also Entwicklung, Nutzerorientierung und Nutzereinbindung – und die Marktorientierung – wie Gestaltung und Vertrieb – von Produkten und Lösungen. In vielen Belangen stimmt er darin mit dem Ansatz des „Universal Designs“ überein. 

Bei Keramag sprechen wir auch gerne von Inklusion oder „Inclusive Design“, weil unserer Ansicht nach in dieser Begrifflichkeit die Berücksichtigung der Vielfalt und Verschiedenheit der Menschen in der Gesellschaft soziologisch am treffendsten abgebildet ist. Anders als bei der Integration geht bei der Inklusion die Minderheit vollständig in der größeren Gruppe auf und wird zu deren gleichberechtigtem, organischen Bestandteil. 

Wir sehen im „Design für Alle“ eine der wichtigsten Gestaltungsherausforderungen der nächsten Jahrzehnte und haben uns die Aufgabe gestellt, Sanitärobjekte nach Möglichkeit so zu gestalten, dass sie generationsübergreifend funktionieren. Das bedeutet aber nicht die Vereinheitlichung von Sanitärobjekten, sondern die Einbeziehung des größtmöglichen Personenkreises bei gestalterischen Konzepten, um die Produkte für möglichst alle gleichermaßen nutzbar zu machen. Das bietet eine altersunabhängige und ergonomische Nutzerfreundlichkeit, die nicht nur älteren und behinderten sowie am Bewegungsapparat erkrankten Menschen, sondern zum Beispiel auch aufwachsenden Kindern, schwangeren Frauen, Linkshändern, Fehlsichtigen und Fettleibigen zu Gute kommt. Damit wollen wir einen aktiven Beitrag für mehr Lebensqualität aller Generationen leisten.

Inwieweit beeinflusst „Universal Design“ beziehungsweise ein „Design für Alle“ die Arbeit Ihrer Produktentwickler und Designer?

Bei nahezu jeder Produktentwicklung wird zunächst geprüft, ob „Design für Alle“ hier zur Anwendung kommen kann. Man sollte grundsätzlich von dieser Möglichkeit ausgehen. Wie bei unserem komfortablen Generationenbad-Programm, das inzwischen bei Fachleuten als richtungsweisend gilt, müssen zusätzliche Sicherheits- und Komfortfunktionen mit einem zeitlos-modernen Design verbunden werden. 

Speziell konzipierte Waschbecken und WCs bieten durch gestalterische Details und optimierte Funktionalität auch bei eingeschränkter Beweglichkeit die Möglichkeit der eigenständigen Nutzung. So erlauben besonders flache Waschbecken sitzenden Personen eine komfortable Körperpflege. Und ergonomisch geformte Front- und Seitenflächen erleichtern das Greifen und Heranziehen. Die WCs verfügen ebenfalls über ein ansprechendes, formschönes Design. Das wandhängende Flachspül-WC hat dabei eine Komfortbreite von 39 cm und entspricht wie das bodenstehende, 46 cm hohe Tiefspül-WC der Barrierefrei-Norm DIN 18040. Alle Varianten weisen keramische Fasen gegen das Verrutschen des WC-Sitzes auf. Höchste Stabilität sichert eine breitere Sitzbefestigung selbst schwergewichtigen Personen oder Rollstuhlfahrern, die seitlich auf das WC übersetzen.

Auch die bodenebene Design-Duschwanne „Opale“ trägt den Anforderungen aller Nutzergruppen Rechnung. Ihr geometrisches Design zeichnet sich vor allem durch formales Understatement aus. Das schon in der kleinsten Variante äußerst großzügig bemessene Produkt verfügt über zwei Zonen: In der wasserführenden Zone wird wohlig geduscht, während die etwa ein Drittel der Dusche umfassende Trockenzone, die in sanfter Neigung in die Nasszone übergeht, beispielsweise zum Abtrocknen dient. Außergewöhnlich ist mit dem Mineralwerkstoff Varicor auch das Material. Es fühlt sich nicht nur angenehm warm an, sondern ist auch rutschhemmend und antibakteriell. Im Gegensatz zu Sanitäracryl hält es selbst stärkeren Reinigungsmitteln problemlos stand. Darüber hinaus ist 
es besonders langlebig und kann sogar prob­lemlos repariert werden.

Sie sprachen gerade von der Barrierefrei-Norm. Steht die Einhaltung von Normen nicht oft einer entstigmatisierenden Produktgestaltung im Wege?

Das war sicherlich früher so, die neue DIN 18040 lässt aber viel Freiraum durch die grundsätzliche Definition von Schutzzielen, die auf mehreren Wegen erreicht werden können. Dennoch sind hier natürlich besondere Kreativität und gestalterische Kompetenz gefragt, um zu ästhetischen und gleichzeitig normgerechten Produkten zu kommen.

Das Bad hat sich in den letzten Jahrzehnten vom reinen Funktions- zum komfortablen Wohnraum gewandelt. Lässt sich „Universal Design“ auch auf dementsprechende Badausstattungen übertragen?

Ja, unbedingt. Wir haben zum Beispiel ein passendes Möbelprogramm entwickelt mit Waschtischunterschränken, einem auch als Midi- beziehungsweise Hochschrank kombinierbaren Seitenschrank, Lichtspiegelelementen sowie einem fahr- und arretierbaren Hocker mit Stauraum. Das erhöht nicht nur den Nutzwert des Bades, sondern auch die Wohnlichkeit. Die Möbel sind in lackierter, matt-weißer Oberfläche mit farbig abgesetzten Blenden in Grafit oder Karamell lieferbar. Sie erleichtern Menschen mit Seheinschränkungen besonders in farbneutralen Bädern die Wahrnehmung und Orientierung. Der Waschtischunterschrank ist speziell für sitzende Nutzer bis hin zum Rollstuhlfahrer konzipiert worden. Durch einen Rücksprung der Regalböden finden die Beine bei geöffneten Schranktüren bequem unter dem Waschtisch Platz. 

Wie gehen Sie bei der Entwicklung von Produkten vor, die die Ansprüche des „Universal Designs“ erfüllen sollen?

Wenn allgemein nutzbare Produkte entwickelt werden sollen, müssen diese so gestaltet werden, dass eine Balance zwischen Wertigkeit, Design und Funktionalität entsteht. Dabei ist es wichtig, von Anfang an auch an die Möglichkeit von Funktionseinschränkungen des Nutzers zu denken. Ziel dieser user-centered oder human-centered Designentwicklung ist es, gebrauchstaugliche Produkte für alle zu entwickeln. Dabei werden die nutzer­orientierten Fakten wie die anthropometrischen Maße und Bewegungsabläufe um die derjenigen Personen mit eingeschränkter Mobilität erweitert. Dies geschieht unter möglichst frühzeitiger Einbeziehung von Nutzern aller Gene­rationen. 

In einem iterativen Prozess werden anschließend die Anforderungen festgelegt, in Produktentwürfe umgesetzt und nach einem Test mit den unterschiedlichen Zielgruppen verfeinert, bis die Lösung alle Anforderungen erfüllt. Gerade ältere Menschen haben einen großen Erfahrungsschatz, je nach Warengruppe können sie vier bis fünf Produktgenerationen erlebt haben. Dieses Erfahrungswissen und die Beachtung von aktuellem Nutzungsverhalten sind wichtige Informationsquellen, um Produkte im Sinne des „Designs für Alle“ zu gestalten. 

Auch der bewährte architektonische Grundsatz „Form follows function“ hilft bei der Produktentwicklung, die jeweils sachgerechte Lösung zu finden. Neben Design, Barrierefreiheit, Usability und Ergonomie sind vor allem auch die Anforderungen älterer Endgebraucher an Wertigkeit, Qualität, Sicherheit und Service zu beachten. 

Entscheidend aber ist, dass der Mensch mit seinen individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen stets im Mittelpunkt des Entwicklungsinteresses steht und nicht nur das technisch Machbare sowie die reine Funktion oder Ästhetik des Produkts. „Design für Alle“ stellt im Prinzip keine grundlegend neuen Anforderungen an die Designer, da viele Aspekte wie beispielsweise Nutzerfreundlichkeit und Ergonomie Bestandteile eines jeden guten Gestaltungsprozesses sein sollten. 

Im vergangenen Jahr ist Keramag mit dem erstmalig vom ZVSHK verliehenen Produkt-Award „Badkomfort für Generationen“ ausgezeichnet worden. Dabei war Ihr Unternehmen als einziger Hersteller mit gleich drei Nominierungen vertreten. Um welche Produkte handelte es sich dabei?

Insgesamt hatten sich Produzenten aus sechs Ländern mit 55 Produkteinreichungen um den Award beworben. Die international besetzte achtköpfige Jury hat im Vorfeld die Bewerbungen gesichtet und 25 davon nominiert. Von uns waren dabei die Spiel- und Waschlandschaft „4Bambini“, der bereits von mir erwähnte Generationenbad-Waschtisch mit Möbelunterschrank sowie das wandhängende WC „Kind“ für die End­runde qualifiziert. Den Produkt-Award hat dann „4Bambini“ erhalten.

Was ist das Besondere an dieser Spiel- und Waschlandschaft?

Mit „4Bambini“ haben wir eine neue Stufe der nutzergerechten Sanitärraumausstattung in Kindergärten und -tagesstätten erreicht. Das Produkt setzt Maßstäbe im spielerischen Erlernen der Körperhygiene sowie beim Umgang mit Wasser. Diesen Anspruch verdeutlicht auch die Produktbezeichnung Spiel- und Waschlandschaft. Das Konzept von vier Waschplätzen auf zwei Höhen trägt den unterschiedlichen Körpergrößen der Kinder Rechnung. Die Wellenform im vorderen Bereich symbolisiert nicht nur die Wasserbewegung, sondern erleichtert auch die Erreichbarkeit der Armatur. Außerdem minimieren die abgerundeten Formen und Kanten mögliche Verletzungsgefahren. Als zusätzliche optische Highlights sind die originellen Armaturen längst zu Kultobjekten geworden. Bei der Bewertung hat die Jury die Nutzerfreundlichkeit, die Flexibilität und Adaptier­barkeit, die ästhetische Qualität, den zielgruppenorientierten Entwicklungsprozess sowie die Innovation und Marktfähigkeit unter dem Gesichtspunkt des generationenübergreifenden Badkomforts beurteilt.

Welchen Stellenwert hat nun das generationengerechte „Universal Design“ heute und in Zukunft?

Das Generationenbad oder – wie wir es bevorzugt nennen – Komfortbad steht immer mehr im Fokus der Badsanierungen. Dieser Trend wird sich zwangsläufig auf Grund der Alterspyramide weiter fortsetzen. Hier eröffnet sich eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben für die Sanitärhersteller. Neuen Untersuchungen zufolge fehlen bis 2020 rund 2,5 Millionen altengerecht ausgestattete Wohnungen. Derzeit verfügen nur 5 Prozent der ins­gesamt 11 Millionen Seniorenhaushalte über barrierefreie Wohnumfelder. Darüber hinaus hat das Pestel-Institut ermittelt, dass der Anteil der Pflegebedürftigen an der Gesamtbevölkerung bis 2035 von 2,9 Prozent auf 4,5 Porzent zunehmen wird. Die daraus resultierende Zahl von dann 3,5 Millionen Menschen wird bis 2050 auf 4 Millionen steigen. 

Die meisten älteren Menschen möchten möglichst lange in den vertrauten vier Wänden bleiben. Voraussetzung dafür ist aber gerade im Bad die Verfügbarkeit von entsprechenden Ausstattungen, die eine autonome Nutzung ermög­lichen. Hier muss die flächendeckende Verbraucheraufklärung von allen  Herstellern weiterhin intensiv begleitet werden. Da die Produkte, die Architektur und die Dienstleistungen die Eigenkompetenz und selbstbestimmte Lebensführung der Menschen stützen, ist das Design für Alle oder „Universal Design“ ein wichtiger Faktor des sozial orientierten Generationenvertrages.

Vielen Dank für das nette und informative Gespräch.

Donnerstag, 26.02.2015